Proteste in Bosnien und Herzegowina: „Das Volk darf nicht verurteilt werden!“

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"Das sind keine Unruhen, hier wird Ordnung gemacht!" (Foto: facebook.com)
„Das sind keine Unruhen, hier wird Ordnung gemacht!“ (Foto: facebook.com)

„Ich persönlich fühle mich überhaupt nicht für die letzten Ereignisse verantwortlich!“ sagt der bosnische Präsident Izetbegovic beim Interview. Kann sein, dass der Schlag auf dem Kopf, den er sich einige Tage vorher bei einem Sturz zugezogen hatte, doch stärker war als gedacht. Ein Glück, dass seine Ehefrau Ärztin ist, die Oberste aller Krankenhäuser in Sarajevo. Den Job hat die Präsidentengattin vom Ehemann geschenkt bekommen. Aus lauter Liebe zu ihr opferte er den sehr kompetenten und seit Jahrzehnten zuständigen Chefarzt. Etwas verstört und nervös sitzt er da mit seinem kleinen Pflaster oberhalb der Braue. Aber immer eine Antwort parat, an die er selbst nicht so ganz glaubt. Sein Vater war der erste Präsident des Landes, er führte das Land in die heutige Lage: die Izetbegovics sind die Familie Bush von Bosnien und Herzegowina.

Die Liebe des Politikers ist groß zum hörigen Volk. Nur nicht zu Hooligans. „Es gibt keine hungrigen Kinder auf der Straße, es gibt keine, die wir bemitleiden müssten, aber es gibt Hooligans, Banditen und Kriminelle. Das sind sehr gut organisierte Gruppen, vollgepumpt mit der Droge Speed und politischen Anweisungen!“ klärt uns Suad Zeljkovic, der ehemalige Premier von Kanton Sarajevo auf. Diese Aussage, die an die von Königin Marie Antoinette von Frankreich erinnert („Das Volk hat kein Brot? Dann sollen sie eben Kuchen essen!“), kostet ihn seinen dicken Büro-Sessel. Er war der erste, der seinen Rücktritt erklärte.

Wer sind diese von den Politikern gefürchtete Hooligans? Trocken äußert sich der Journalist Srdjan Puhalo auf Facebook: „Hooligans sind böse. Frauen haben Hooligans geboren! Politiker sind unschuldig, Frauen sind schuld an den Unruhen in Bosnien und Herzegowina!“ Er macht darauf aufmerksam,  wie absurd die Aussagen der Politiker in der Öffentlichkeit sind. Sie tun alles, um ihre ethnisch nationalistische Ideologie aufrecht zu erhalten, um weiterhin korrupt zu regieren, so wie sie es die letzten 20 Jahre getan haben. Auch von den einheimischen Medien bekommen sie den Rücken gestärkt. Keiner redete mehr über den eigentliche Grund, weshalb das Volk Bosniens auf die Strasse ging. Es ging nur noch um Randalieren und Brandlegungen. Falsche Infos wurden verbreitet und gefälschte Bilder veröffentlicht. Die Politiker der Entitäten nutzten die Stunde, um die Schuld jeweils der anderen „Religion“ in die Schuhe zu schieben.

Nur der bosnische Politiker Fahrudin Radoncic verurteilt das brutale Vorgehen der Polizei und Spezialeinheit gegen das Volk und schiebt die Schuld auf andere Parteien. Der Medienmogul, der ursprünglich aus dem serbischen Sandzak stammt, nutzt seinen Auftritt im Fernsehen, um Werbung für seine umstrittene Partei zu machen. Unglaubwürdig, wenn man weiss, dass er eigentlich das Amt des Sicherheitsministers in Bosnien innehat.

Milorad Dodik, der Präsident der serbischen Teilrepublik von Bosnien und Herzegowina, hörte seine lang ersehnte Stunde schlagen. Schon ertönte seine Stimme ganz laut: „Die gewalttätigen Demonstrationen in der Föderation sind ein Beweis dafür, dass Bosnien als solches nicht funktioniert. Wir sind in der serbischen Teilrepublik besser aufgestellt, wir müssen unseren Staat bekommen. Auch Kroatien ist mit einer Teilung einverstanden, sie sind nach dem Krieg leer ausgegangen.“ Das erzählt ein Mann, der über ein Land regiert, das durch ethnische Säuberung und durch Genozid entstanden ist. In seinem Reich empfängt er gerne Kriegsverbrecher auf hohem Fuß, wie Biljana Plavsic, die im Den Haager Gefängnis saß und ein Buch über ein moslemisches Gen verfasste, ein Pendant zu Sarrazins schwachsinnigem Buch in Deutschland. Auch Mostars „kroatische“ Politiker nutzen ihre Gunst der Stunde und nahmen die Unruhen als Bedrohung von den bösen Moslems wahr. Umso schlimmer, dass der bosnische „Bush“-Sohn ihre Meinung unterstütze, indem er beim Interview erklärte: „Wir haben dieses Problem nur in Gebieten, in denen in der Mehrzahl die Bosniaken (d.h. moslemische Bosnier) wohnen …“ Am Sonntag fuhr Dodik nach Belgrad, um die Situation mit serbischen Politikern zu besprechen und an einer Lösung zu feilen. Genau so verhielt es sich mit dem Politiker aus Mostar, der fuhr nach Kroatien, um sich dort für sein „kroatisches“ Land eine Meinung zu holen.  Wie schön, dass es eine Politikerin wie Frau Zeljka Cvijanovic in der serbischen Teilrepublik gibt, die hinter dem bosnischen Volk „steht“: “ Ich solidarisiere mich mit diversen Völkern dieses Planeten, auch mit dem aus der bosnischen Föderation, wenn es sein muss.“

Der Horizont in den Köpfen der bosnisch-herzegowinischen Politiker ist entweder sehr begrenzt oder sie hoffen immer noch, die alten Strukturen, die ihnen unendlichen Reichtum beschert haben, weiter beibehalten zu können. Sie merken nicht, dass ihre Politik nach 20 Jahren nicht mehr greift. Das bosnische Volk hat sich vereint, wollen die Auflösung des Dayton-Vertrages und der ethnisch eingeteilten Kantone. Sie wollen gemeinsam in einem Bosnien leben, Moslems, Katholiken, Orthodoxe, Juden, Sinti und Roma – sie wollen sich Bosnier nennen dürfen! Sie haben keine Lust, weiter ausgenutzt und betrogen zu werden. Und vor allem: sie wollen nicht mehr unter einer nationalistisch geprägten Politiklandschaft leben!

Die Soziologen Asim Mujkic und Esad Bajtal aus Bosnien und Herzegowina erklären genau, was das Volk bewegt. Beide sind sicherlich gegen Gewalt und Randale, aber für die Bewohner der Stadt symbolisieren die Institutionen, die von Dayton festgesetzt wurden, das Böse, v.a. allem die zahlreichen Kantone. Sie sind für die Privatisierungen und die dadurch entstandene Armut unter der Bevölkerung verantwortlich:  700.000 leben unter der Armutsgrenze, Bosnien zählt zu den 13 ärmsten Ländern, 550000 Arbeitslose bei 3,8 Millionen Einwohner. Die Dunkelziffer ist höher anzusetzen.

„Natürlich kann man über das Übel der Brandlegung des Archivs lamentieren, aber man darf nicht den jahrelangen Verfall des Nationalmuseums vergessen, das auch keinen interessierte“, erklärt Mujkic. Er fordert, den Fokus weiter auf den wahren Grund der Demos zu legen und nicht auf die Vandalismen – sie passieren weltweit und es gibt so gut wie keine Demos weltweit, bei denen kein Fenster in Brüche gegangen ist. Wichtig bleiben die Forderungen der Arbeiter und diese gehen nicht in die nationalistische Richtung, wie sie die politische Elite seit 20 Jahren vermittelt und es bei diesen Protesten wieder versucht. Es ist immer am leichtesten zu sagen, dass so etwas von aussen käme. Es scheint wieder in die Richtung zu gehen, dass die eigentliche Stimme des Volkes nicht gehört werden soll.“ erläutert Mujkic.

Bajtal betont, dass er nicht urteilt, sich aber Fragen stellt: „Wirft einer den ersten Stein, werfen die anderen automatisch mit. In Bosnien stellt sich eher die Frage: wie fanden diese Wurfsteine ihren Weg in die Stadtmitte? Es gibt Menschen, die wollen nicht zurücktreten. Und warum? Weil sie sich da befinden, wo es ihnen gut geht! Sie versuchen nun, die Schuld auf diejenigen umzuwälzen, deren Schuld nur darin liegt, dass sie leben. Eine Situation, die moralisch rein war, wird durch politische Interessen umgewandelt, so dass man über Plünderer und Hooligans redet, um „legal“ auf den „Pöbel“ einschlagen zu können.  Man darf das Volk nicht verurteilen! Die einzige Schuld ist bei der Obrigkeit zu suchen, denn die aktuellen Ereignisse sind das Ergebnis ihrer 20-jähringen Nichtarbeit, Plünderung, Betrügereien, gelogenen Versprechungen. Es ist traurig, dass die Bevölkerung und die Polizisten sich gegenseitig verletzen. Diejenigen, die für diese Zusammenstöße verantwortlich sind, sitzen geschützt hinter dicken Mauern und schicken per mail an die Medien heraus, wie sie die gefährdeten und bedrohten Opfer in dieser ganzen Geschichte sind“, erklärt Bajtal.

„Wir sind dieser unterdrückenden Gewalt schon seit 20 jahren unterstellt und wenn dem Volk Rechte kekürzt werden, dann ist das Gewalt am Volk. Wenn ihnen jemand die Existenz verkürzt, dann gibt es keine Rechtfertigungen zu diesem Schritt“, sagt Mujkic und Bajtal fügt noch hinzu: „Anscheinend möchte das Volk nicht mehr mitmachen, sie wollen nicht mehr in einem Film mitspielen, in denen sie die Rollen eines Serben, Bosniaken oder Kroaten spielen müssen. Sie wollen diesen Status verlassen und auf sich selbst konzentrieren – sie wollen sich mit den elementaren Schwierigkeiten in ihrem Leben beschäftigen und dafür Lösungen haben. Das Volk kämpft hier um seine Existenz und es denkt an die Kinder und ihre Zukunft. Jugendlich und junge Menschen sind arbeitslos, meistens auch in Besitz von Abschlüssen, die nichts wert sind. Das liegt daran, dass unser Schul- und Hochschuls-System nicht kompatibel mit den internationalen sind, so können sie sich mit ihrem Abschluss schwer im Ausland bewerben,  geschweige in eigener Heimat was finden.“

Der Verwaltungsapparat in Bosnien und Herzegowina ist teuer. Nach dem Daytonvertrag ist das Land in die Serbische Teilrepublik und die Föderation, die aus zehn Kantonen besteht, geteilt. Beamten arbeiten in 150 Ministerien. Ein Politiker in Bosnien und Herzegowina verdient bis zu zehnmal mehr wie ein Arbeiter. „In unserer Gesellschaft leben 85 Menschen, die neun Milliarden Dollar besitzen. Das ist eine Statistik vom Dezember 2011.  Keiner hat sie dementiert, aber auch keiner weiss, wer diese Menschen sind. Wir sind ein demokratisches Land, wir haben das Recht, die Namen zu erfahren und wie diese Personen zu dem Geld gekommen sind. Der Krieg wird immer gerne als Grund für den Reichtum genannt, aber der Krieg galt allen. Es kann nicht sein, dass einer aus dem Krieg neun Milliarden herauszieht und ein anderer nicht einmal Geld für ein Brötchen übrig hat“, erklärt Bajtal, „Diese Menschen, die nichts zu essen haben, haben ihre Arbeit in der Fabrik durch grundlose Kündigungen verloren. Fabriken, die vorher dem Volk gehörten, wurden durch Politiker verkauft und privatisiert. Die privaten Besitzer entliessen all die Arbeiter. Anstatt dass der Staat diese kriminellen Handlungen verurteilt und ihnen Handschellen anlegt, nehmen sie diese in Schutz, indem die Obrigkeit Polizei gegen den protestierenden „Pöbel“ schickt, um diesen von der Strasse zu beseitigen. Der Arbeiter soll hungrig in seine Wohnung zurückkehren und darauf warten bis er stirbt? Das sind Illusionen. Keiner will freiwillig sterben, jeder wird kämpfen.“

Die EU wehrt sich noch, die Stimme des bosnischen Volkes zu hören. Valentin Inzko, Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina war laut der Medien drauf und dran, internationale Truppen gegen die „Unruhen“ auszusenden und Erhard Busek, Vorstand des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa, sagt in einem Interview für einen österreichischen Radiosender, dass die Leute den Staat wollen müssen. Sie müssten eine Struktur finden, die nicht auf ethnischer Ebene funktioniere. Es sei auch viel Geld geflossen nach Bosnien und Herzegowina – wohin es verschwunden sei, wisse er nicht. Er erzählt auch über Verhandlungen zwischen der DB und den Politikern der beiden Entitäten. Es wäre nichts zustande gekommen, da sich die Politiker nicht einigen konnten.

Nun, brauchte es für diese Aussage 20 jahre? Nein. Er bezieht immer noch die schlechte Lage auf die Unruhen des Volkes und nicht auf das jahrelange falsche Handeln der Politiker, mit denen sich das internationale politische Feld trifft und verhandelt. Die EU muss endlich verstehen, dass die politische Obrigkeit von Bosnien und Herzegowina nicht die Stimme des Volkes ist.

„Wenn die Demonstrationen zum Guten laufen, dann wird ein Großteil der Regierung im Gefängnis landen,“ sagt Mujkic und spricht aus der Seele vom Großteil der bosnischen Bevölkerung.

Die Bevölkerung Bosniens macht seine ersten Schritte in Richtung demokratische Freiheit. In Tuzla treffen sie sich gerade zum Plenum, um Arbeitsgruppen zu bilden, die an einer idealen Zukunft arbeiten sollen.

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11 Kommentare

  1. Also liebe Leute! Die Lösung liegt erst einmal eine Phase der Versöhnung einzuleuten, damit das Volk wie vor dem Krieg das representiert was wir alle sind.: Jugoslawen…. Das hat Bosnien und Herzegowina representiert. Merh Mischehen als in einer der anderen Staatgebiete des alten SFRJ. Der Krieg hat Misstrauen und Unsicherheit im Volk zurückgelassen. Moselems, Katholiken, Orthodoxe, Juden, Sintih u Roma wurden im Krieg nur nach ihrerem Glauben und ihrer Ethnie klassifiziert. Serben sind die absoluten dämonen. Kriegsverbrechen von anderen Parteien werden unter dem Teppich gefegt und die zurständigen nicht verurteilt sondern begehen weiterhin verbrechen jetzt gegen ihrer eigene Ethnie…. Ja so ist es halt…. das Problem liegt im Selbsthass dieses Volkes… Wenn man einen DNA-Test machen würde, würde ersichtlich sein das DNA mässig dies alles ein Volk ist… jedoch hat die Mass-Media schon im Kriegsverlauf die leute desinformiert. Fals-Flaks die von jeweiligen Parteien z.B. Izabegovic geplant und durchgefürht wurden sind, damit unterstützung von seiner Volksguppe (falsche nennung, da alles ein Volk ist) kommen und Zwitracht und Hass gegenüber anderen Gruppen entfacht wird…. Ihr könnt hier soviel schreiben wie ihr wollt. Der Anfang ist jetzt erst einmal diese Desinformation und den Hass und dern Zwitracht in der Bevölkerung aufzuklären und eine Versöhnungsphase einzuleuten welches das Volk wieder vereint. Alles ist Möglich. Jedoch sollte jeder Bezug zu einer dieser internationalisierten klassifikationen des BiH-Volks erst einmal aufgearbeitete werden. Und jeder sollte sich mal an seiner eigenen Nase mal fassen. Die Serben sind die Bösen, das weiss man ja heut zu tage. Lass uns die ganze Wahrheit offentragen. Damit WIR unser VOLK das HERZ Jugoslawiens wieder so schön schlägt wie eins.

    1. Desinformation auflösen
    2. Aufklärung
    3. Versöhnung und Annäherungsphase für das Volk
    4. Suche und Verurteilung der Verbrecher durch ein neues exekutives Organ der BiH (und nicht so ein billiges Schauspiel wie in DH NL.. (Wo selbst die Chefankläger das Zweifeln bekommen und nicht weiter wissen)
    5. übernahme der 150 Kantone und neuwahlsystem
    6. Recht auf souvernität BiH

  2. Danke für deine kritische und ausführliche Zusammenfassung. Die reißerischen Beiträge im Fernsehen („Revolucija!“) sind verschwunden, es ist sehr plötzlich sehr still geworden. Und seit es nicht mehr brennt und Schlagzeilen wie „Bosnischer Frühling“ keine Wirkung mehr haben, ist auch in der deutschen Berichterstattung kein Platz mehr für BiH. Als hätte ein betrogenes Volk ohne Verletzte und ein Archiv in Flammen keinen Informationswert. Das macht wütend!

    Puno pozdrava iz Mostara Ruth

    1. Liebe Ruth,

      die Berichterstattung in Deutschland war allgemein sehr mager! Und dann ging sie oft in die falsche Richtung (ethnisch geprägte Demonstrationen etc… siehe u.a. Wirtschaftsblatt). Doch es wird weltweit darüber sehr gut berichtet u.a. in den USA! Heute einen wundervollen Bericht aus Österreich gelesen, kann ich nur wärmstens empfehlen:

      http://dastandard.at/1392685781353/Am-bosnischen-Wesen-koennte-Europa-genesen

      Liebe Grüße und Danke für Deinen Kommentar!

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