Der Polizist Sanjin Rasidovic und das Roma-Mädchen Anika – eine ungewöhnliche Freundschaft
Einige Jahre begegnete ich regelmässig auf Bascarsija, dem alten osmanischen Basar in Sarajevo, einem kleinen Roma-Jungen. Ein sehr guter Freund erzählte mir, dass er ganz lieb wäre und er immer glücklich sei, wenn er ihn auf eine kleine Portion Cevapcici eingeladen habe. Der kleine Junge musste in seinem Beisein essen, denn er wußte, dass man es ihm wegnehmen würde, wenn er mit dem Essen zu seiner Familie auftauchen würde. Eines Mittags war ich allein unterwegs und just traf ich ihn an. So lud auch ich ihn auf Cevapcici ein.
Noch heute erinnere ich mich an sein Lächeln und das Strahlen seiner kindlichen braunen Knopfaugen. Viel unterhalten habe ich mich nicht mit ihm. Irgendwann war er nicht mehr da und er geriet bei mir in Vergessenheit.
Die Erinnerung an ihn wurde wieder wach, als ich einen Eintrag im Facebook las. Der Polizist Sanjin Rasidovic aus Gorazde begegnet einem kleinen Roma-Mädchen. In seinen Augen ist sie ein Kind wie jedes andere auch, unabhängig ihrer Herkunft. Mit Freunden beginnt er sich um sie kümmern. Doch er weiss, dass das Mädchen ein schweres Leben haben wird, wofür vor allem wir Mitmenschen und ihre Umgebung dazu beitragen. Er verfasst folgenden Eintrag, der mich und weitere tausende Leser zutiefst berührt hatte:
https://www.facebook.com/photo.php?fbid=10201157793456857&set=a.1071498277604.12949.1530540975&type=1&theater
Kleine Anika..
Vor kurzem ist das kleine Roma-Mädchen Anika (sie habe noch einen weiteren Namen, den sie aber nicht mehr kenne) in der Stadt aufgetaucht, mit welchem ich eine Freundschaft anfing. Oft unterhalten wir uns und sie ist der Grund, das ich mir Gedanken über sie und die Kinder/Enkelkinder von meinen Freunden mache. Jeden Morgen ist sie fröhlich, manchmal unausgeschlafen, jedoch immer barfuß mit ungekämmten Haaren. Aber ordentlich beim Umringen der Tische, bettelnd um Geld.
Vor einigen Tagen zeigte mir meine Freundin ganz glücklich ein neues Gummi-Armband. Einige Tage später zeigte sie mir stolz ein neues mit einem Plastikanhänger dran. Das macht sie glücklich.
Anika ist fünf oder sechs Jahre alt, sie weiss es nicht genau. Sie hat keine Geburtsurkunde, aber ein paar Brüder und Schwestern. Sie hat sich es nicht auswählen können, doch sie traf dieses Unglück, dass sie barfuß um die Tische rennen muss. Sie wird nicht in die Schule gehen und wird einen Pappkarton als ihr Zuhause nennen können – ohne Strom, Wasser, Fernseher oder Computer. Sie kümmert sich nicht darum, ob die Eltern das Guthaben auffüllen werden vom Handy, denn sie besitzt keines. Sie ist glücklich, wenn sie nicht hungern muss.
Nach unseren täglichen Begrüßungen in der Roma Sprache „Sohi, Soccere“ (Hallo, wie geht es Dir) unterhält sie sich mit uns wie eine ganz Große. Manchmal ist sie sauer auf uns, wenn wir sie, Nino, Jasenko oder ich, darum bitten, dass sie sich ihr Gesicht wäscht oder wir ihre kleinen verdreckten Finger mit Taschentüchern säubern. Doch sie lässt alles über sich geduldig ergehen, in der Hoffnung, eine Mark oder was zum Essen zu bekommen.
Sie ist nicht berechnend. Wenn sie was isst, dann kommt sie zu mir und fragt, ob ich Hunger hätte, während sie mir die Hälfte von ihrem Sandwich anbietet. Wenn ich mit ihr zum Essen gehe, dann erzählt sie mir, dass sie nicht mit einem Messer und Gabel umgehen kann. Wenn sie Durst hat, ist sie mit einem Glas Wasser zufrieden, auch wenn sie manchmal stolz mit einer Flasche Saft an uns vorbei flaniert.
Anika, oder wie auch immer sie heisst, kennt keine Buchstaben, keine Computerspiele. Sie hat keine Eltern, die sie jeden Tag in die Schule fahren, sie kennt das Problem nicht, wenn WIFI nicht funktioniert, sie wird nie bei einer Schulaufführung teilnehmen, bei welcher die Eltern, Verwandten und Nachbarn ihr stolz zusehen werden, während sie ein neues Kleid trägt… Keiner wird ihr das Schreiben und Lesen beibringen, sie hat kein Zuhause und sie hat kein Kleid. Sie hatte keines, jetzt schon…
Heute haben mein Freund und ich sie getroffen und sie erzählte uns, wie glücklich sie sei, uns zu Freunden zu haben… Wir sind mit ihr in ein Bekleidungsgeschäft gegangen und Anika suchte sich stolz eine Hose und ein Kleid aus. Sie säuberte sich ihr Gesicht mit feuchten Tüchern und sie war ein richtiges Mädchen. Später habe ich sie angetroffen und sie erzählte mir, dass sie Ballerinas gesehen habe, die ihr sehr gefielen. Wir kauften ihr diese und dazu noch Socken in derselben Farbe. Sie erzählte mir glücklich, wie sie alle darauf ansprechen würden, dass sie sich so schick gemacht hätte und stolz machte sie einen Spaziergang mit mir. Als ich später in einem Café mit einer mir vor allem sehr lieben Person saß, kam sie und säuberte sich ihr Gesicht stolz mit einem feuchten Taschentuch – sie hat es gelernt – und zeigte mir ihre kleinen Hände mit lackierten Fingernägeln…
Dennoch, viele von uns können von ihr was lernen. Sie hat ein ehrliches Lächeln, wenn sie glücklich ist, zeigt sie es auch. Sie trägt keine Maske, wie ein Großteil der Menschen, sie ist nicht neidisch, sie kämpft nur ums Überleben…
Sie wird auf der Strasse aufwachsen – barfuss – wird sich auf den Kampf um das Leben vorbereiten, denn sie hat nicht das Glück, Eltern zu haben, die ein normales Leben führen… Sie wird groß gezogen von Menschen auf der Strasse, so wie sie sich ihr gegenüber benehmen, mancher grob, mancher nett. Aber sie kümmert sich nicht um Eure Sorgen, um „Eure Probleme“, dass Ihr täglich zu Eurem gut bezahlten Arbeit gehen müsst, ihr es nicht zum Friseur oder Kosmetiker geschafft habt, nicht Eure Kredit-Rate rechtzeitig überwiesen habt, den Ihr für ein Euch wichtiges Bedürfnis aufgenommen habt.
Sie ist nur ein kleines Mädchen, das ums Überlegen kämpft. Kein einziger Friseur, zu welchem ich sie gebracht hatte, hat sich bereit erklärt, sich um ihr Haar zu kümmern. Und es tut mir so leid um Anika und all diese Kinder, die in diesem Alter so süß sind, wenn sie Millionen an Fragen stellen, doch keiner da ist, der sie beantworten möchte… Jeder wird sie vertreiben, aber dennoch wird sie weiterhin die Tische und Strassen umkreisen, um zu überleben.
Meine „Freundin“ Anika ist ein wahrer Held, ich wünschte, sie hätte eine wahre Familie und ihre eigenen Träume, wie wir alle…
Ich wünsche ihr viel Glück und dass dieses Glück sie begleiten möge.
Seit ich Sanjin Rasidovics Gedanken um die Kinder von Roma gelesen habe, kann ich nicht anders, als mich dafür zu schämen, dass ich den kleinen Roma-Jungen von Bascarsija in Sarajevo nie nach seinem Namen gefragt hatte…
Toller Bericht.
Danke <3