„Ich möchte leben, arbeiten…“ – Briefe aus Sarajevo, Kroatien und Deutschland 1992 – 1996 (Teil 2)

"Ich möchte leben, arbeiten..." - Briefe aus Sarajevo, Kroatien und Deutschland 1992 - 1996 (Teil 2) 1

22 Jahre ist es her, dass der Krieg in Bosnien mit den ersten Todesopfern in Sarajevo seinen Anfang fand. In den darauf folgenden 1425 Tagen bestimmten Tod und Bestehen das Leben in der belagerten Stadt. Ich war damals 16 Jahre alt. Die Jahre Krieges in meiner Heimat waren durch Hoffnung und Bangen um die Familie, Verwandten und Freunde bestimmt. Die Tage vergingen damit, dass ich auf ein Lebenszeichen wartete. Jeder Anruf und jeder Brief meiner Freunde aus Bosnien gab mir Kraft. (Mehr dazu unter Teil 1.)

Auch 22 Jahre nach dem Krieg berühren mich Fotos aus dem Balkankrieg und das darauf Abgebildete ist immer noch kaum greifbar für mich. Hätte ich nicht Briefe von Freunden bekommen und Telefonate mit Verwandten geführt, könnte ich die Geschehnisse schwer fassen oder gar glauben.  Man sagt, es sein nicht gut, sich mit dem negativ Vergangenen zu beschäftigen. Man solle diese Vergangenheit ruhen lassen und sich der Gegenwart und einer guten Zukunft widmen. Dem stimme ich zu. Doch alle Verfasser dieser Briefe, aus denen Passagen veröffentlicht sind, sind heute glücklich verheiratet und stolze Eltern. Sie geben den Alltag der jugendlichen Kriegs-Generation wieder und ihre Verarbeitung der schrecklichen Geschehnisse, die ihnen widerfahren sind. Meine Freunde haben einen Weg gefunden, die Kriegsvergangenheit hinter sich zu lassen. Ich finde, dass die Worte von Nerma, Safija oder Medina über ihre Vergangenheit nicht verstummen dürfen. Sie sollen mahnen, damit sich diese Vergangenheit nicht wiederholt, nirgendwo und niemals wieder. Und sie haben mir eines mitgegeben, das ich gerne weitergeben möchte: Hass führt zu nichts, nur Liebe und Toleranz lässt glückliches Leben entstehen.

1992, Briefe von Nerma aus Zaostrog/Kroatien

…Ich musste mein Haus verlassen, weil ich die Geschehnisse in Hrasnica (Stadtteil von Sarajevo) nicht mehr ertragen konnte. Granaten morgens bis abends, immer währende Aufenthalte in Kellern, ohne Strom und Wasser. Ich viel hatte Zeit zum Überlegen und dachte über viele Dinge nach. Manchmal fragte ich mich, ob Du Dich an mich überhaupt noch erinnerst. Ich denke, dass Du Dich an mich erinnerst.  Ich muss Dir gleich eine traurige Nachricht überbringen. Ich habe einen sehr guten Freund verloren und es ist auch dein guter Freund. ALE. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie leid es mir um ihn tut. Ich war noch in Sarajevo und es gab einen Angriff. Wahrscheinlich ist auch er an der Linie gewesen und so ums Leben gekommen. Das Herz ist ihm durch die Detonation geplatzt. Jetzt erinnere ich mich jeden Tag an ihn. Nun bin ich in Zaostrog (Kroatien) und ich habe gehört, dass auch Sedin ums Leben gekommen ist. Allerdings hat mich vor ein paar Tagen ein Freund besucht und er erzählte mir, dass Sedin nach Deutschland geflüchtet sei, er aber nicht wisse, ob er dort angekommen ist. Falls Du die Adresse seiner Verwandten in Stuttgart (so heisst anscheinend die Stadt) weisst, dann schick sie mir bitte mit dem nächsten Brief zu. Nun bete ich zu Gott, dass er noch lebt….

…Ich gewöhne mich allmählich an den ruhigen Schlaf und denke nicht an die Granaten. Vor einigen Tagen besuchten uns Freunde. Einer von ihnen ist ein großer Optimist und er sagt, dass alles bald vorbei ist… Ich bitte Gott, dass all das schnell vorbei geht. Ale geht mir nicht aus dem Kopf. Er war so lieb, er war nicht falsch, was eine Seltenheit ist. Das einzige, was ich nun für ihn tun kann, ist für sein Glück in der anderen Welt zu beten. Das tue ich nun jeden Tag. Ich hoffe, dass das alles bald vorbei ist…

…Hier habe ich nur Sorgen. Meine Seele ist nicht ganz bei mir. 1/3 ist bei meiner Familie in Sarajevo, 1/3 bei meinem Vater und meinen Cousins in Hrasnica und 1/3 ist bei mir. Ich sehe mir Fotos der Stadt , d.h. die Trümmer von Sarajevo an. Es ist eine Stadt des Todes, der Krankheit, des Hungers. Wer auch immer von da kommt oder einen Brief über UNPROFOR schickt, sagt, dass es erschreckend dort ist.  Wie kann ich hier ruhig bleiben? Du schreibst, dass Deine Cousins bei Euch sind. Ich danke Gott, dass sie gesund sind und leben. Was würde ich dafür geben, dass meine Familie bei mir sein könnte. Ich erwarte meinen Vater, ich mache mir so sehr Sorgen um ihn… …Von Sedin habe ich immer noch nichts gehört…

Kurz danach hatte sich Sedin bei meiner Familie gemeldet. Ich schrieb meiner Freundin Nerma, dass sie sich keine Sorgen mehr um ihn machen müsse. Er ist zusammen mit seiner Familie zu Verwandten nach Deutschland geflüchtet.

…Wenn Du nur wüstest, wie sehr Du mich mit der Nachricht erfreut hast, dass Sedin in Sicherheit bei seiner Familie ist. Ich habe mich alle die Zeit gefragt, was mit ihm sei. Er war mein bester Freund, mit dem ich über alles reden konnte. Ich habe einen Brief aus Sarajevo von meinen Verwandten bekommen. Sarajevo ist die Hölle, es herrschen Chaos, es gibt keine Lebensmittel, kein Strom, kein Wasser, und es ist kalt. Mienen Cousinen, die nun die erste Klasse Bäuschen, schrieben mir, dass sie durstig sind, weil sie kein Wasser haben und ich ihnen doch was schicken soll. Wie würde ich ihnen was schicken wollen, wenn es die Gelegenheit nur zulassen würde. Ich habe geheult ohne Ende. Mein Cousin und der Schwager meiner Tante sind verletzt worden, aber es geht ihnen wieder gut…

Anfang 1993, Brief von Sedin aus Deutschland:

…Seit ich aus Hrasnica weg bin, hat sich mein Leben komplett verändert. Bei meiner Ankunft in Deutschland habe ich mich in ein Zimmer verbarrikadiert und wollte keinen Kontakt zu irgendjemanden. Ich musste all die Zeit an Hrasnica denken und meine Freunde. Ich beschloss nach einiger Zeit, mich doch bei Dir zu melden. Dann hast Du mir vom Tod von ALE erzählt. In dem Moment habe ich mich verloren und wußte nicht, was ich dazu sagen soll. Nach unserem Telefonat bin ich nach Hause und habe wie ein Irrer geweint. ALE war wie ein Bruder für mich. In einigen Momenten habe ich es bereut, dass ich mich bei Dir gemeldet hatte, wurde ich doch mit der schlimmsten Nachricht meines Lebens konfrontiert. ALE und ich haben uns so gut verstanden. Wir haben all die Zeit zusammen verbracht. Unsere enge Freundschaft wurde durch einen bescheuerten Krieg getrennt und durch eine Granate für immer beendet. Er musste sein Leben in den besten Jahren lassen. Und ich blieb am Leben und muss mit der Trauer leben. Er kam ums Leben bei einer Aktion, an der auch ich hätte teilnehmen müssen. Wir sollten den verfickten FAMOS (Fabrikgelände) befreien – entschuldige die Ausdrucksweise bitte. Einige Male sind wir um drei Uhr in der Früh gemeinsam aufgewacht, um uns von unseren Eltern zu verabschieden, um an die Front zu gehen. Immer wenn wir losmarschieren sollten, würde der Kommandant uns zurückpfeifen, da es doch keinen Angriff geben würde. Ich war froh und traurig darüber. Froh, weil meine Eltern und mein Bruder nicht wollten, dass ich an dieser Aktion teilnehme und traurig, weil ich es endlich zu Ende bringen wollte. Diese Absagen waren ein Krieg der Nerven. Wenn Du einmal beschlossen hast zu gehen und Dich von Deiner Familie und Freunden verabschiedest, verschwindet die Angst vor dem Tod. Es ist Dir dann egal, ob Du überlebst oder stirbst. Wenn es unterbrochen wird, dann kommt wieder die Angst. Ich habe Hrasnica verlassen,  etwa 15 Tage bevor ALE getötet wurde. Als Du mir seinen Tod mitgeteilt hast, hatte ich keine Lust mehr zu leben. Ich wünschte mir, nie wieder nach Hrasnica zurück zu kehren, denn dort hatte ich keinen solchen Freund wie ihn… Ich fing langsam an zu begreifen, dass das Leben wichtig ist und dass ein Erfolg im Leben wichtig ist. Ich begriff, dass ich leben muss, egal was mir im Leben passiert ist. Dann beschloss ich, ALE zu rächen. Doch dann kam ich von diesem Gedanken weg, denn es haben ungefähr 150.000 Menschen ihr Leben in Bosnien verloren. Wenn alle ihre Toten rächen wollen würden, würde dieser Krieg nie ein Ende finden. Nun wünsche ich mir, dass dieser Krieg bald zu Ende ist und dass ich bald wieder Hrasnica sehen kann und meine Freunde. Ich möchte leben, arbeiten und etwas erreichen…

ALE (links) mit seinen Freunden. Das Foto wurde im Sommer 1991 von mir aufgenommen 
ALE (links) mit seinen Freunden. Das Foto wurde im Sommer 1991 von mir aufgenommen

Nerma und Sedin waren 16 und 17 Jahre alt, als sie mir diese Briefe schrieben. ALE starb mit 17 Jahren.

(Ende Teil 2)

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2 Kommentare

  1. Danke auch hier Mirella!
    Ich bin wie du der Meinung dass das nicht vergessen werden sollte, was da an Grausamkeiten passiert ist.
    Ich hoffe dass die Menschheit irgendwann mal begreift, das Kriege niemals Probleme lösen, sondern neue herbeiführen.

    Ich hab in Dubrovnik in einer kleinen Gasse eine kleine Bombenattrappe gesehen, darüber stand : Never Forget!
    und Ich finde solche Mahnmale sollten überall stehen, um viele Menschen damit zu erreichen.

    Wenn ich in einem MOnat in Sarajevo bin, werde ich an deine Freunde denken und wie sie dort erbärmlich leben und einer ja leider auch sterben musste.

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