Täter oder Opfer – Gavrilo Princip und der Erste Weltkrieg
Zum hundertsten Jahrestag des Attentats von Sarajevo versuchen die Teilnehmer der internationalen Konferenz „The long shots of Sarajevo 1914 – 2014“ das Geschehen neu zu interpretieren. Die Ergebnisse überraschen.
Der südafrikanische Autor Tim Butcher steht in Obljaj im Nordwesten Bosnien-Herzegowinas vor einem Felsen. In diesen Stein hatte der Attentäter Gavrilo Princip 1909 seine Initialen geritzt. Weshalb er dies tue, hatte ihn damals ein Freund gefragt. Der damals 14-Jährige antwortete: „Eines Tages werden sich die Leute an meinen Namen erinnern“, schreibt Butcher in seinem Buch „The Trigger“, die aktuell ausführlichste Biographie über Gavrilo Princip.
Fünf Jahre später schrieb der junge Gavrilo tatsächlich Weltgeschichte. Am 28.06.1914 erschoss der 19-jährige Gymnasiast den Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Ungarn und seine Gemahlin Sophie während ihres Besuches in Sarajevo. Das Ereignis ging als Auslöser des Ersten Weltkrieges in die Geschichte ein.
Wie ein junger Mann aus einem kleinen Ort solch eine Kettenreaktion auslösen konnte, die zum bis dahin größten Krieg aller Zeiten führte, diskutieren bis heute Wissenschaftler weltweit. Neue Erkenntnisse lieferte jetzt die Konferenz „The long shots of Sarajevo 1914 – 2014: events – narratives – memories“. Prof. Dr. Clemens Ruthner vom Trinity College in Dublin und Prof. Dr. Vahidin Preljević von der Philosophischen Fakultät in Sarajevo luden vom 24. bis 28. Juni 2014 internationale Historiker, Professoren und Autoren in die bosnische Hauptstadt ein. „Der Staat Jugoslawien hat in Sarajevo mit dem Attentat von 1914 seinen Anfang und 1990 findet ebenda der Vielvölkerstaat durch den Balkankrieg auch sein Ende. Daher auch der Name Long shots of Sarajevo. Wir wollen Rekonstruktionen zu den Ereignissen beisteuern und sehen, welche Erzählungen daraus in den Medien, Literatur und Politik entstanden sind und wie diese Narrative im kulturellen und politischen Gedächtnis verwendet wurden“, erklären die Gastgeber. Professor Ruthners Schwerpunktthema sind Österreich-Ungarn und Bosnien-Herzegowina um die Jahrhundertwende, Prof. Preljevic beschäftigt sich mit Geistes-, Kultur- und Wahrnehmungsgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts.
Das Attentat ist als Auslöser des Ersten Weltkriegs so fest in der Geschichte verwurzelt, dass Details von Princips Absichten bis heute übersehen werden. „Er hatte keine Vorstellung, dass seine Tat zu einem Weltkrieg führen könnte. Er hatte auch kein Konzept, was nach dem Attentat passieren sollte“, erklärt Biograf Tim Butcher in seinem Vortrag. Der Journalist stellte auf der Konferenz sein Buch über den Attentäter vor. 2012 reiste er unter anderem nach Bosnien, um dort über den Attentäter und den Ursprung des Ersten Weltkriegs zu recherchieren. Er sah auch alte Dokumente ein, darunter die persönlichen Aufzeichnungen des Militärarztes Martin Pappenheim, der als Gefängnispsychiater Princip während seiner Haft betreute. „Princips Idee war, die Serben, Kroaten und Slowenen zu vereinen. Aber nicht unter Österreich, sondern in einer anderen Staatsform – einer Republik oder etwas Ähnlichem“, verzeichnet Pappenheim in seinen Unterlagen.
Schon in jungen Jahren kämpfte Princip für Gerechtigkeit und verteidigte diejenigen, die sich selbst nicht wehren konnten, schreibt Butcher. Der Sohn einer orthodoxen Familie wurde 1894 geboren. Er war schwach und gebrechlich und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Sechs seiner acht Geschwister sterben im Kindesalter. Er flüchtet sich in Bücher, liest Alexandre Dumas, Oscar Wilde, Walter Scott. Er hätte eher gehungert, als eines seiner Bücher verkauft, schreibt Pappenheim in seinen Protokollen. Da er ein ausgezeichneter Schüler war, beschloss die Familie, ihn zur Weiterbildung nach Sarajevo zu schicken. Dort konnte er die kaufmännische Schule besuchen. In dem kleinen Dorf gab es keine Möglichkeiten für den intellektuellen Sprössling.
Princips Reise von Obljaj nach Sarajevo ließ in dem Jungen die Wut aufsteigen. Sein Vater und er gingen zu Fuß über die Berge und nahmen dann den Zug bis nach Sarajevo. Das war 1907. Er war gerade mal 13 Jahre alt. Nicht nur in seinem Heimatdorf, sondern unter den Bauern im ganzen Land herrschte Armut unabhängig ihrer Herkunft und Religion. Dabei war die Hoffnung der Bevölkerung Bosniens groß nach der Übernahme durch die Österreicher im Jahre 1878 von den Osmanen. Österreich bezeichnete die Besatzung des Landes als „menschenfreundlichen Akt“, was sich bald als Augenwischerei herausstellte. Einige hundert Kilometer Straßen wurden gebaut, primär für eigene, meist militärische Zwecke. Das neu angelegte Eisenbahnnetz diente zur kommerziellen Ausbeutung des Landes, das reich an Bodenschätzen und Wäldern war. „ Der Balkan war Hauptlieferant für die Industrie in Österreich-Ungarn“, erklärt Džemal Sokolović von der Universität Bergen.
Die Botschaft Österreichs lautete, dass nur eine christliche Nation die inkompetente Herrschaft der grausamen und korrupten Osmanen wiedergutmachen kann. Doch das durch die Osmanen eingeführte Feudalsystem wurde kaum verändert. Die Begs (d.h. Fürsten) konnten weiterhin Steuern in astronomischen Höhen verlangen. Auch die prunkvoll gebauten Schulen und Universitäten in größeren Städten wie Sarajevo konnten nicht verbergen, dass 1910 immer noch 88% der Bevölkerung weder schreiben noch lesen konnte, schildert Butcher die damaligen Verhältnisse.
Das führte zur Bildung von revolutionären Untergrundorganisationen. 1910 tötete der 24-jährige Jurastudent Bogdan Žerajić den österreichisch-ungarischen Gouverneur von Bosnien, Marijan Varešanin. Der letzte Schuss galt ihm selbst. Er war Mitglied der Organisation „Mlada Bosna“ (Junges Bosnien), einer kommunistischen und anarchistischen Gruppe, welcher bosnische Serben, Kroaten und Moslems angeschlossen waren. Princip erfuhr vom Essayisten Vladimir Gacinovic, dem besten Freund von Zerajic und Gründer der revolutionären Gruppe „Mlada Bosna“ über ihn. „Nachts ging ich zum Grab meines Vorbilds und schwor, dass ich dasselbe tun würde“, erzählte Princip seinem Gefängnispsychiater. So schließt er sich in Sarajevo dieser Organisation an. Das muss 1910 gewesen sein. „Der Name wurde an Marzinnis „Junges Italien“ angelehnt. Diese Organisation entschied sich nicht von anderen revolutionären Bewegungen in Europa, deren Ziel der Sturz von führenden Köpfen durch individuellen Terror war“, erklärt Ivan Čolović, Ethnologe aus Belgrad.
Das Opfer musste von politischer Wichtigkeit sein und so fiel die Wahl in Bosnien auf den Erzherzog Franz Ferdinand. „Daraus könnte man einen Hollywoodstreifen drehen“, erklärt Clemens Ruthner. „ Ein Konflikt zwischen zwei Männern auf der Machoebene. Der unsympathische Besatzer Franz Ferdinand gegen den entschlossenen jungen Mann Gavrilo Princip. In der Geschichtsschreibung wird dem tschechischen Chauffeur vorgeworfen, er wäre falsch gefahren. Hätte er die geplante Route genommen, wäre der Wagen mit dem Kaiserpaar nicht am Attentäter vorbei gekommen. Doch dieser hielt nur an der alten Route fest, da man ihn nicht informiert hatte, dass diese geändert wurde.“
Boris Hrabač von der Medizinischen Fakultät von Sarajevo berichtet, dass der Slawen-Liebhaber Franz Ferdinand Reformen bis Ende 1914 für das Balkangebiet plante, die auch die Grenzen an der Drina gegen das großserbische Reich sichern sollten. Der Zusammenschluss von Kroatien, Bosnien und Dalmatien zu Südslawien, das mit Österreich-Ungarn den sog. Trialismus bilden sollte, war einigen Österreichern zuwider, da sie den Slawen zu viel Macht gewährte. „Für Serbien war ein starkes Österreich-Ungarn mit Südslawien ebenfalls nicht von Interesse. Doch es wollte keinen Krieg mit den Österreichern provozieren. Die junge Republik war von den beiden Balkankriegen von 1912 und 1913 sehr geschwächt und unstabil. Auch hatten sie hohe Schulden bei Deutschland und Österreich“, erklärt Boris Kršev vom Institut für Rechtswissenschaften an der Universität Novi Sad.
„Schon zehn Jahre vor dem Ereignis in Sarajevo war die Sehnsucht nach Krieg bei jungen Männern in Österreich und Deutschland groß“, erläutert der Theologe Prof. Dr. Hans-Peter Grosshans von der Universität Münster. Das Attentat war für die Österreicher perfekt, um es für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. „Es schien die Gelegenheit zu sein, endlich das auszusprechen, was viele Länder schon lange dachten“, sagt Vedad Smailagić von der Universität Sarajevo. Auch Franzosen und Russen waren gewillt für einen Krieg, um außenpolitische Ziele zu erreichen. Der Hamburger Historiker Philipp Blom macht die Industrialisierung für den Krieg verantwortlich: „Durch die Industrialisierung wurde der Mensch durch Maschinen ersetzt. Das führte zur Depression. Die Männer fühlten sich in ihrer Männlichkeit gestört und der Wunsch, sich mit Säbeln als Mann zu beweisen, entfachte den Enthusiasmus zum Krieg.“ „Albtraum der Vernunft“ bezeichnet der Historiker diesen Werdegang. „Diese neue schnelle Welt wurde als falsch empfunden. Eine neue bessere Welt kann nur durch die Vernichtung des Alten entstehen – durch einen Krieg“, fügt Grosshans hinzu. Kurz nach dem Beginn des Krieges kam schnell die Ernüchterung. „Es ist ein Krieg, in dem zum ersten Mal menschliche Körper gegen Artillerie standen. Es fand wenig Nahkampf statt und 50 Prozent der Gefallenen verloren ihr Leben anonym im Schützengraben“, erklärt Blom. Etwa 17 Millionen Menschen starben im Ersten Weltkrieg.
Wie konnten die Österreicher den Krieg gegen Serbien legitimieren? „Bosnien-Herzegowina entsprach nicht einem nationalistischen, sondern einem multikulturellen modernen Staat, das der Serben, Kroaten und Slawen“, erklärt Hrabač. Laut den Gerichtsunterlagen bezeichnete sich Princip selbst als jugoslawischer Nationalist, der alle südslawischen Nationen vereinen wollte. Religiös war er nicht. Doch die Organisation „Mlada Bosna“ wurde von der paramilitärischen Gruppe „Schwarze Hand“ aus Serbien unterstützt. Abtrünnige Militärs, die immer noch für ein urserbisches Großreich kämpften, mit denen anscheinend Serbien nichts zu tun haben wollte. Vor dem Attentat bekamen Princip und weitere Mitglieder von ihnen Waffen und Granaten. Und sie ließen sich in Belgrad zu Attentätern ausbilden. Das war für einige Analysten genug, um zu behaupten, sie hätten im serbischen Interesse gehandelt, schreibt Butcher. „Österreich hat nicht die Wahrheit gesagt. Princip war kein serbischer Faschist, sondern bosnischer Nationalist und überzeugter Südslawe. Kein einziger bei Mlada Bosna war Serbe, sondern Bosnier verschiedener Religionen. Nur weil Princip Waffen von den Serben bekam, ist er nicht gleich selbst einer. Bin Laden, der die Waffen von CIA erhielt, wurde auch nicht zum Amerikaner“, sagt Butcher. „Es gibt Zeitungen, die schon am 28.06. eine Sonderausgabe über das Attentat herausbrachten. Allein durch die Aufmachung der Titelseiten findet eine Bewertung des Vorfalls statt“, sagt Vedad Smailagić von der Universität von Sarajevo. „Weil sie orthodox sind, sind sie Serben. Weil sie in Serbien waren und die Waffen aus Serbien stammen, ist Serbien schuld.“
Laut der österreichischen Presse wurde der Anschlag bewusst für den 28. Juni geplant, da dies der wichtigste Feiertag für die Serben ist. Am St. Veits-Tag wird der sogenannte „Kosovo-Mythos“ gefeiert. 1389 tötete Miloš den osmanischen Sultan Murat, die Schlacht verloren die Serben trotzdem. Dieser Sieg durch die Türken ruft bis heute Verbitterung bei den serbischen Nationalisten hervor. In den Zeitungen war zu lesen, dass das gewählte Datum von den Serben als provozierend empfunden wurde. „Der Kaiser wird in allen Zeitungen als Friedenskaiser bezeichnet, Serbien als Bösewicht. Damit war die propagandistische Absicht vollbracht, die Stellung der jungen Bosnier und ihres Attentats festgesetzt, was in das kulturelle Gedächtnis einging“, fügt Smailagić hinzu.
Die Gastgeber wollten genau dieses kulturelle Gedächtnis in Frage stellen und Raum für Diskussionen schaffen. Ein schwieriges Unterfangen, wie sie sagten. Manchmal waren die Fragen sehr einfach zu beantworten. Eine Teilnehmerin aus dem Publikum erwiderte, dass Franz Ferdinand einen Krieg verhindern wollte. So sei er eigentlich das falsche Opfer gewesen. Der Belgrader Professor Čolović erwiderte daraufhin: „Das wussten die Attentäter damals nicht und jetzt ist es zu spät.“
Noch heute erweist sich die Aufarbeitung des Mythos als schwierig. „Es ist, als ob man das alte Silberbesteck nach langer Zeit aus dem Schrank herausholt, um es abzustauben und dabei unvoreingenommen sein möchte“, erklärt Ruthner. Sarajevo, die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina und Tatort des Geschehens, als Ort für die Konferenz zu wählen, hat Sinn, denn nirgendwo anders gibt es mehrere Versionen zum Attentat und seinen Folgen. „Princip wurde anfangs als jugoslawischer Held und in seiner späten Phase immer mehr als Serbe gefeiert. Der Kriegsverbrecher Radovan Karadžić hatte während des Balkankrieges in den 90ern den Plan, Sarajevo nach der Eroberung in Principovo (Principgrad) umzubenennen“ erzählt Preljevic. Die Idee eines großserbischen Reiches ist immer noch in den Köpfen von serbischen Nationalisten und bei vereinzelten Mitgliedern der serbisch-orthodoxen Kirche verankert. Auch heute wird Princip für diese Ideologie vereinnahmt, indem man ihm ein Denkmal in der serbischen Teilrepublik aufstellt und ihn als serbischen Helden feiert. „Es gab ein offizielles Verbot aus dem Präsidentenamt: Keiner darf sich an irgendwelchen Gedenkveranstaltungen zum Ersten Weltkrieg in Sarajevo beteiligen. Aus Angst nahm keiner aus der serbischen Teilrepublik an der Konferenz teil“, berichten die Gastgeber.
Heute wird Princip entweder idealisiert oder dämonisiert. „Ein junger Mann aus dem bosnischen Hinterland brachte seinem Volk die Freiheit. Gavrilo zündete einen Krieg, welcher die Fremdherrschaft beendete. Jugoslawien war die neue Nation, die den Slawen eine eigene Identität und Staat gab. Als das Interesse an Jugoslawien in den 90ern starb, starb auch das Interesse an Princip“, sagt Butcher. Der Balkankrieg in den 90ern war eine Weiterführung des Ersten Weltkriegs in Bosnien. „Gavrilo Princip ist eine Figur des kulturellen Gedächtnisses, die sehr stark ideologisiert ist. Doch er ist auch Opfer. Man ließ ihn im Gefängnis verrotten“, erzählen die Gastgeber Preljević und Ruthner. Gavrilo Princip starb 1918 an Tuberkulose.
Heute erinnert nur noch eine Steinplatte an Gavrilo Princip. Sie ist an der Kreuzung in Sarajevo angebracht, an der er die tödlichen Schüsse abgab. Sein Grab auf dem Friedhof Koševo ist kaum bekannt. Der Nachwelt hinterließ er folgende Verse, die er an die Wand in seiner Gefängniszelle ritzte:
„Unsere Geister werden durch Wien spazieren und durch den Palast umherstreifen, um den Herren Angst einzujagen.“
Englische Version unter:
https://balkanblogger.com/2015/02/24/perpetrator-or-victim-gavrilo-princip-and-the-first-world-war/
Ob Bosnier oder Serbe, und egal aus welchen Motiven – begangen hat er einen Doppelmord, einen terroristischen Anschlag, bei dem er sogar zuerst auf die aus böhmischem Adelsgeschlecht Chotek z Chotková stammende Erzherzogin schoß, die noch im Auto verstarb. Im Bericht kam auch klar zum Ausdruck, daß Gavrilo Princip sich keine Gedanken über die Person und politischen Ideen des österreichischen Thronfolgers machte, er aber bereit war, nicht nur diesen Mann zu töten, sondern auch dessen Gattin, die selbst slawischer Herkunft war.
Und für solch einen Doppelmörder soll es ein fortwährendes Gedenken in Form von Statuen und Straßennamen geben ? In einer Gemeinschaft, die sich zu den Grundwerten des Rechts auf Leben und Unversehrtheit, des Friedens und der Menschenrechte bekennt, kann die Verherrlichung eines terroristischen Doppelmörders nicht geduldet werden !