Henriette Schröder: Ein Hauch von Lippenstift für die Würde
„Ich begriff, dass unter Beschuss, unter den mittelalterlichen Bedingungen, unter denen die Frauen leben mussten, schön sein zu wollen, nichts mit Eitelkeit zu tun hatte. Es ging ihnen darum, ihre Menschlichkeit zu bewahren.“ (Christiane Amanpour, in: Henriette Schröder, Ein Hauch von Lippenstift für die Würde*)
Eine attraktive Frau schreitet erhaben die Strasse entlang. Ihre kurzen Haare sind frisiert, ihr hübsch geschminktes Gesicht reckt sie selbstbewusst nach oben. Elegant bewegt sie sich in ihrem engen Blümchenkleid und den Pumps. Eigentlich wäre diese Fotografie nichts besonderes. Wären da nicht der Soldat mit dem Gewehr im Vordergrund und die Sandsäcke zum Schutz vor Granatsplittern und Schüssen im Hintergrund. Die schwarz-weiss Fotografie, die um die Welt ging, wurde 1994 vom britischen Fotografen Tom Stoddart im belagerten Sarajevo während des Balkankrieges aufgenommen.
Die abgebildete Dame ist Meliha Varesanovic. In Interviews erinnert sie sich, wie sie an dem Tag zum ersten Mal mit kurzem Haarschnitt das Haus verliess. Sie hatte sich ihre langen Haare abgeschnitten, weil es kaum Wasser und Shampoo gab. Doch sie wickelte sich die kurzen Haare ein, um ihnen Struktur zu verleihen. Sie lief immer langsam die Strasse entlang und rannte nie, denn sie wollte den Scharfschützen signalisieren, dass sie keine Angst vor ihnen habe. Auch hatte sie sich im Krieg immer besonders schick angezogen. Wahrscheinlich mehr, wie sonst, erzählt sie. Sie wollte sich vom Feind nicht aufzwingen lassen, Turnschuhe zu tragen. Das war ihre Art zu zeigen, dass sie sich nicht unterwerfen lasse. Doch sie setzte damit nicht nur Zeichen gegen den Feind, der die Stadt belagerte und die Bewohner der Stadt erniedrigte. Sie setzte damit auch Zeichen an die Aussenwelt und vor allem an die ausländischen Medien, welche die Bürger auch erniedrigten. „Sie nahmen nur arme Frauen mit Kopftüchern auf, die natürlich litten und Schreckliches erlebten. Es war furchtbar. Aber keiner berichtete darüber, dass Frauen in den Städten alles gaben, um ihre Würde in dieser schrecklichen Zeit zu bewahren.“
Meliha Varesanvic ist nicht die einzige Frau im Krieg, die sehr großen Wert auf ihr Aussehen legte in der schlimmsten Not. Im Buch Ein Hauch von Lippenstift für die Würde* befragte die Autorin Henriette Schröder 23 Frauen, die in Sarajevo und Grosny versuchten zu überleben, in Russland und der DDR verhaftet, in China, im Iran, in Prag oder Bukarest erniedrigt wurden und diejenigen, die unmenschliche Bedingungen in Lagern oft über Jahre erduldet haben.
Es sind verschiedene Schicksale und Situationen, unter welchen die Frauen schreckliche Zeiten und Gräueltaten erlebten. Doch in einem Punkt sind sie sich alle einig. Wenn Du nicht mehr auf Dein Äußeres achtest, hast Du verloren und der Feind gewonnen. Die bosnische Journalistin Samra Lučkin, die während des Krieges in Sarajevo lebte und arbeitete, antwortet im Buch auf die Frage, ob es in solchen Situationen nicht weitaus Wichtigeres gab: „Ich hatte am ersten Tag des Krieges genauso viel Angst wie am letzten. Ich wollte aber auch nicht hinnehmen, dass mich jemand zu einer Lebensweise zwingt, die unter meiner persönlichen Würde ist … Es gibt um Würde und um Auflehnung gegen diese Primitiven, die uns umzingelt hatten und auf uns schossen … Auf sich zu achten unterstreicht immer den Lebenswillen.“
So organisierten die Frauen Sarajevos Modeschauen, Misswahlen und Konzerte. Mit Kleidung und Kosmetika half man sich gegenseitig aus. Man kam irgendwie zurecht. Die Journalistin Senka Kurtović erzählt im Buch, wie ihre Freundinnen und sie es als unerträglich empfunden hätten, unepiliert und mit angegrauter Unterwäsche im Krankenhaus eingeliefert zu werden. Das erinnert mich an ein Gespräch mit einer Freundin, die mir nach dem Krieg erzählte, wie eine Bekannte, die Friseurin war, einen Salon im Keller eröffnete. Er lief sehr gut und war frequent besucht. Auch von ihr: „Wenn ich sterben sollte, dann wollte ich dabei gut aussehen.“ Eine weitere Bekannte erzählte mir, wie sie während des Krieges jeden Tag ins Gymnasium ging, obwohl sie von einem Scharfschützen hätte erschossen oder von einer Granate getroffen werden können. „Das war mir scheißegal, der Feind konnte mich mal. Ich wollte kein Jahr verlieren.“
Nicht nur die Scharfschützen erniedrigten die Frauen. Die bosnische Künstlerin Šejla Kamerić veröffentlichte nach dem Krieg ein Plakat mit ihrem Portrait und der Aufschrift:
„No teeth …?
A moustache …?
Smel like shit …?“
Bosnian girl!“
Die Aufschrift war ein angebrachtes Graffiti, verfasst von einem niederländischen UN-Soldaten in Potocari/Srebrenica 1994/95. Srebrenica war UN-Schutzzone, wo am 11. Juli 1995 der schreckliche Genozid an mehr als 8000 muslimischen Männern und Jungen passierte. Frauen wurden von den Männern getrennt und teils in Vergewaltigungslager gebracht. Vergewaltigungen sind im Krieg an der Tagesordnung gewesen. Noch heute werden diese Frauen mit ihrem Schicksal alleine gelassen. Zusammen mit dem „United Nations Populations Fund“ (UNFPA) begleitete der bosnische Fotograf Armin Smailovic das Schicksal dieser Frauen. Seine Fotos dokumentieren die Situation und die Notlage der Frauen, ungeachtet ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit.
Im Buch erzählen Frauen weltweit ihre Geschichten, die Opfer verschiedener Regimes wurden. Die Tschetschenin Zara Murtazalieva wurde 2004 unschuldig in Russland zu acht Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Im Straflager musste sie Zwangsarbeit leisten. Sie saß in der Fabrik geschminkt und mit gewelltem Haar: „Man will beweisen, dass man immer noch stark und die Seele nicht zerbrochen ist.“ Auch in KZ-Lagern achteten die Frauen auf ihr Aussehen. Es ging so weit, dass sie sich von der kargen Tagesration an Lebensmitteln etwas beiseite legten und dies für ihr gepflegtes Aussehen benutzten.
Heute haben wir Krieg in Syrien, Afghanistan, Irak. Es erreichen uns schreckliche Nachrichten über die IS, die Frauen entführen, vergewaltigen und zum Verkauf anbieten. Die Terrorgruppe Boko Haram in Nigeria entführen ganze Mädchen-Schulklassen und zwingen sie zur Heirat. In anderen Ländern werden junge Mädchen beschnitten, mit alten Männern jung verheiratet. Die Taliban wollen keine Mädchenschulen erlauben. Frauen und Mädchen werden öffentlich gesteinigt. In einigen Ländern dürfen Frauen nicht ohne männliche Begleitung auf die Strasse. Vom Wahlrecht ganz zu schweigen. Sie dürfen kein Auto oder Fahrrad fahren, müssen sich komplett verhüllen. Und, und, und … Die Liste der Unterdrückung der Frau ist lang. Sehr lang.
Geradezu lächerlich scheinen die Probleme von uns Frauen in Deutschland, die um Gleichberechtigung in Wirtschaft und Politik kämpfen. Sonst geht es uns gut. Wir leben im Frieden und können unsere Meinung öffentlich äussern. Und wir dürfen wählen! Doch die aktuelle Lage zeigt, dass wir jeden Tag für unsere Freiheit kämpfen müssen. Nicht nur am Weltfrauentag. Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 in Deutschland strafbar, das Wahlrecht besteht erst seit 1919. Nun kämpfen wir um dieselben Gehälter unserer männlichen Kollegen und um die Frauenquote. Bis heute versuchen politische Parteien, die Frau zu Gebärmaschinen der Nationen zu machen, das Abtreibungsrecht abzuschaffen, sowie die Gleichstellung im Arbeitsleben nicht zu fordern. Die Freiheit, die wir geniessen, ist nicht selbstverständlich. Wir müssen ständig daran arbeiten, um sie zu bewahren. Nicht nur für uns, sondern auch für unsere Töchter. Und wir sollten all der Frauen gedenken, die in der Vergangenheit dazu beigetragen haben, dass wir dieses große Geschenk des Lebens, genannt Freiheit, bei unseres Geburt empfangen durften. Der Erhalt der Freiheit ist ein Zeichen dafür, dass die Frauen, die dafür ihr Leben opfern mussten, nicht umsonst gestorben sind. Lasst sie uns als Vorbild nehmen und unseren Schwestern, die in Not sind, helfen.
Das Foto von Meliha Varesanovic ging in die Geschichte ein. Es ist ein Symbol für die Frau, die Glamour in den Krieg brachte. Noch heute trägt sie ihre Haare kurz und ist geschminkt. Sie ist eine Dame geblieben. Die Pumps, die sie auf dem Bild trug, hat sie nicht mehr. Sie warf sie während des Krieges ins Feuer, um Brot zu backen. Eine Frau, die sich nicht in die Knie zwingen lässt, wird ihr Aussehen niemals vernachlässigen. Doch es wird ihr auch nicht schwer fallen, ihre Lieblingsschuhe zu opfern, wenn sie damit Leben retten kann.
Henriette Schroeder
Ein Hauch von Lippenstift für die Würde*
ISBN 978-3-938045-91-6
ca. 304 Seiten, 60 Abbildungen, 14,5 x 21 cm
24,95 EUR (D) / 25,70 EUR (A) / 35,50 sFr